“Anatevka”-Premiere in Magdeburg

„Kommt Kinder, es ist soweit“. Mit diesen Worten endet eine mitreißende, emotionale und in jeder Hinsicht gelungene Premiere des Musicalklassikers „Anatevka“ am Theater Magdeburg. Die Zuschauer im komplett ausverkauften Opernhaus feiern das gesamte Team minutenlang mit Beifall, Bravo-Rufen und stehenden Ovationen.

Hinter ihnen liegen etwa drei Stunden, in denen Regisseur Erik Petersen, seine Cast und das gesamte Inszenierungsteam das Publikum mitnehmen auf eine Reise in eine ferne und fremde Welt: das jüdische Schtetl Anatevka, Anfang des 20 Jahrhunderts. Eine Gemeinschaft, geprägt durch strenge Religiosität und den damit verbundenen, ebenso unverbrüchlichen Traditionen. Eben jene werden gleich im ersten Lied von Milchmann Tevje, dem Hauptcharakter des Stückes, und der gesamten Gemeinschaft des Schtetl besungen. Ein stimmgewaltiger Auftakt, der den ersten Gänsehautmoment des Abends beschert. Und von solchen Momenten der Stimmgewalt und der Gänsehaut sollte es im Verlauf des Abends noch einige mehr geben. Am Ende verdrückte so mancher im Publikum sogar eine Träne, als die anfangs noch so eingeschworene und sich im Schutze ihrer Traditionen nahezu unangreifbar wähnende Gemeinschaft  zerfällt  und nicht nur Tevjes Familie einer ungewissen und – wie wir heute aus dem Verlauf der Geschichte wissen – für  Millionen Juden tödlichen Zukunft entgegen geht. So gibt es auch nach Tevjes letzten Worten und mit Blick auf die nun leere Bühne erst einmal ein paar Augenblicke des Innehaltens und des tiefen Durchatmens, bevor der Applaus zunächst etwas zaghaft, dann nahezu frenetisch die Leistungen der Protagonisten und des Inszenierungsteams honoriert.

Der gebürtige Magdeburger Erik Petersen hat auf seiner „Heimatbühne“ eine Inszenierung erschaffen, die trotz ihrer historisch-religiösen Bezüge, der zeitlichen Verortung des Stückes im Jahr 1905 und dem Schatten der hinlänglich bekannten und manchmal nur bedingt erträglichen Versionen von „Wenn ich einmal reich wär“ alles andere als angestaubt daherkommt. Im Gegenteil, ist doch die Thematik der Vertreibung von Menschen aus ihrer Heimat und das Aufeinanderprallen verschiedener Religionen immer noch und immer wieder brandaktuell.

Doch der Hauptfokus des Stückes und auch der Magdeburger Inszenierung liegt nicht auf der großen Politik. Vielmehr geht es um Gemeinschaften und dabei vor allem um Familie. Da ist ein Vater, der schwer arbeitet, um seiner Frau und seinen fünf Töchtern ein einigermaßen gutes Leben zu ermöglichen. Wie alle Eltern möchten auch Tevje und seine Frau Golde, dass es ihren Kindern einmal besser geht als ihnen. Das bedeutet in ihrer Tradition, die Töchter möglichst reich zu verheiraten. Zu diesem Zweck wird sogar eine Heiratsvermittlerin engagiert, die scheinbar auch gleich erfolgreich die älteste Tochter Zeitel unter die Haube in Gestalt des verwitweten Metzgers Lasar Wolf bringt. Doch Tevje und Golde haben nicht damit gerechnet, dass ihre Töchter – wenn auch keinesfalls leichtfertig, am Ende aber doch bestimmt – mit den althergebrachten Traditionen brechen und nicht die Männer heiraten, welche Heiratsvermittlerin Jente und ihre Eltern für sie auserkoren haben. Sie folgen ihrem Herzen, heiraten aus Liebe und emanzipieren sich damit auf eine Weise von ihren Eltern, der Gemeinschaft und zum gewissen Teil auch von ihrem Glauben, welche Tevje und Golde nur schwer akzeptieren können. Ein armer Schneider, ein aufrührerischer Student und am Ende sogar ein Christ werden ihre Schwiegersöhne. Und die Hoffnungen der Eltern auf eine Fortführung der althergebrachten Traditionen durch die Töchter  zerplatzen.

Statisterie, Tänzer, Chor, Schauspieler und Sänger des Musiktheaterensembles und Gäste aus der Musicalbranche hat Regisseur Petersen auf der Bühne zusammengebracht. Dreh- und Angelpunkt und die tragende Säule des Stücks ist Andreas Lichtenberger in der Rolle des Tevje. In dieser zeigt er die gesamte Bandbreite seines sängerischen und darstellerischen Könnens. Ausgesprochen spielfreudig in Mimik und Gestik, mit nahezu stetigem direkten Kontakt zum Publikum verleiht er dem Milchmann eine ganz eigene, unverwechselbare Charakteristik. Als Zuschauer fühlt man förmlich jede seiner Emotionen, seinen Kampfgeist ebenso wie seine Trauer, seine Dominanz als Familienoberhaupt genauso wie seine Unentschlossenheit, sein Schwanken zwischen Zorn und Liebe. Letztes wird besonders intensiv in Tevjes Dialogen mit Gott, die eigentlich eine Zwiesprache mit sich selbst sind. Immer wieder wägt er das „Andererseits“ ab, während die Bühne dunkel, nur mit einem Spot auf ihn gerichtet, und die anderen Protagonisten und damit das gesamte Geschehen für die Dauer dieser Zwiesprache regelrecht eingefroren sind.

An seiner Seite als Gattin Golde ist Kammersängerin Undine Dreißig zu erleben. Sie spielt die Mutterrolle ausgesprochen herzerwärmend und hingebungsvoll und trotzdem auch recht resolut. Da fragt sich an der einen oder anderen Stelle durchaus nicht nur der Zuschauer, sondern auch Tevje, wer in seinem Haus eigentlich die Hosen an hat. Interessant ist es zu erleben, wie die Musicalstimme Lichtenbergers und die Opernstimme der Mezzosopranistin Dreißig trotz aller Unterschiede dieser beiden Genres miteinander harmonieren. So sind vor allem „Tevjes Traum“ und das Duett „Ist es Liebe“ ein stimmlicher Hochgenuss.
Auch die anderen Hauptrollen sind genre-divers und hochkarätig besetzt. Die Töchter werden von den Musical-Sängerinnen Manja Stein (Zeitel) und Beatrice Reece (Hodel) sowie der Mezzosopranistin Isabel Stüber Malagamba (Chawa) verkörpert. Die Männer an ihrer Seite spielen die Musical-Gäste Benjamin Sommerfeld (Motel) und Jan Rekeszus (Pertschik) sowie Olli Rasanen (Fedja) als Mitglied des Magdeburger Opernchores.

Eben jener Opernchor unter der Leitung von Martin Wagner spielt in dieser Inszenierung eine tragende Rolle. Viele Mitglieder der Gemeinschaft im Schtetl werden durch Chorsolisten besetzt. Und die großen chorischen Szenen und Lieder, wie das Eingangslied „Tradition“ und vor allem auch das Shabbat-Gebet, sind Höhepunkte des Stücks. Ebenso wie die großen Tanzszenen wie etwa auf Zeitels und Motels Hochzeit. Gemeinsam lassen professionelle Tänzer, Solisten und Chor mit den Choreografien von Sabine Artholt die Bühne sprichwörtlich beben.

Eine ganz besondere Aufgabe kommt in „Anatevka“ der Chorsängerin Ulrike Baumbach zu. Sie ist ebenfalls Mitglied der in Magdeburg recht bekannten Klezmerband „Foyal“. Und in dieser Funktion ist sie – gemeinsam mit zwei weiteren Musikern der Band – der „Fiddler on the Roof“, wie „Anatevka“ im englischen Original heißt. Und hier ist auch das einzige kleine Haar in der Suppe. Nicht etwa die Tatsache, dass eine Frau den Fiedler auf dem Dach verkörpert, sondern dass sie mit Macht zum Mann verkleidet wurde. In Zeiten, in denen „cross-gender“ besetzte Musicals wie „Company“ oder Schauspiele wie „King Lear“ Erfolge feiern und sogar Preise einheimsen, hätte es – selbst im historisch-gesellschaftlichen Kontext des Stückes – zumindest den angeklebten Vollbart nicht gebraucht.

Aus musikalischer Sicht ist es Damian Omansen gelungen, aus der Klezmerband und den Musikern der Magdeburgischen Philharmonie – die übrigens nicht im Orchestergraben, sondern auf der Hinterbühne ebenfalls sichtbarer Teil der Inszenierung sind – eine perfekte Einheit zu schmieden. Durch diese Bühnenplatzierung der Musiker ist das Verhältnis zwischen Orchester und Gesang deutlich besser abgestimmt als das in manch anderer Musicalinszenierung der Fall war, in denen die Musiker manchmal die Sänger übertönt haben.

Erik Petersen und dem gesamten Team auf der Bühne ist es mit dieser Produktion gelungen, „Anatevka“ von jeglichem möglichen Staub zu befreien und ein frisches, zeitgemäßes und bewegendes Musical zu schaffen. In dieser Spielzeit ist es noch am 9., 26. und 30. Mai zu sehen, weitere Vorstellungen sind für die kommende Spielzeit geplant.

(c) Kirsten Nijhof

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