“Betrayal” in London

Harold Pinter gehört zu den am häufigsten gespielten britischen Autoren auf deutschen Theaterbühnen. In seinem Heimatland ist die Anerkennung für den mit zahlreichen hochrangigen Theater- und Literaturpreisen und sogar dem Nobelpreis für Literatur (2005) ausgezeichneten Autoren natürlich um ein Vielfaches größer. Hier wurde er im vergangenen Jahr anlässlich seines 10. Todestages mit verschiedenen Aktionen gefeiert. Das nach ihm benannte Harold Pinter Theatre im Londoner West End widmete ihm unter dem Titel „Pinter at the Pinter“ gleich eine ganze Spielzeit. Von Anfang September 2018 an liefen dort insgesamt sieben verschiedene Theaterabende, immer mit verschiedenen Stücken aus Pinters Feder und unter Mitwirkung zahlreicher Weggefährten und bekannter Schauspieler wie Penelope Wilton (bekannt aus „Downton Abbey“) oder Martin Freeman („Sherlock“, „Der Hobbit“).

Quasi als Paukenschlag zum Abschluss dieser Saison feierte am 13. März das wohl bekannteste abendfüllende Stück Pinters seine Premiere: „Betrayal“ („Betrogen“). Es ist eine Geschichte vom Betrügen und Betrogen werden, eine Geschichte, die auf einer Episode aus Pinters eigenem Leben beruht, nämlich seiner sieben Jahre andauernden Affäre mit der britischen TV-Journalistin Joan Bakewell.

Um diese Dreiecksgeschichte auf die Bühne zu bringen, hat die Jamie Lloyd Company unter Regisseur Jamie Lloyd drei Schauspieler gecastet, die auch außerhalb Großbritanniens keine Unbekannten sind: Allen voran Tom Hiddleston (vor allem bekannt als Marvels Bösewicht Loki, Golden Globe Gewinner für „The Night Manager“), ihm zur Seite stehen Charlie Cox (Marvels „Daredevil“) und Zawe Ashton, die aktuell neben Jake Gyllenhall in dem Streifen „Die Kunst des toten Mannes“ („Velvet Buzzshaw“) zu sehen ist.

Eine Frau zwischen zwei Männern, einer ist ihr Ehemann, der andere ihr Geliebter, beide Männer sind beste Freunde: Auf den ersten Blick wirkt dieser Plot wie ein Stück Boulevardtheater. Doch dieser erste, oberflächliche Eindruck täuscht, denn was Regisseur Jamie Lloyd und seine drei Starschauspieler auf die Bühne bringen, sind 90 intensive,  emotional bewegende und dramaturgisch sowie schauspielerisch exakt pointierte Minuten. Dabei setzt der Regisseur ganz auf die schauspielerischen und sprachlichen Qualitäten seiner Protagonisten, denn das Bühnensetting ist extrem minimalistisch: Lediglich zwei Stühle und etwas später im Stück zusätzlich ein einfacher Klapptisch sind die Requisiten. Dazu eine Drehbühne und eine bewegliche Rückwand für die sparsam eingestreuten Projektionen zur Zeitangabe der jeweiligen Szene, alles meist in gleißendem, kalten Licht, nur manchmal etwas gedimmt, aber immer alles ausleuchtend.

Die Zeitangaben auf der Bühnenwand sind notwendig, denn die Geschichte wird rückwärts erzählt, über einen Zeitraum von neun Jahren. So beginnt das Stück mit dem Ende der Geschichte, mit dem Ende der Ehe zwischen Robert (Tom Hiddleston) und Emma (Zawe Ashton). Der Zuschauer kennt also von Beginn an das Ende und weiß damit im weiteren Verlauf das Stückes, während die Geschichte an ihre Anfänge zurück geht, immer mehr als die handelnden Personen. Die insgesamt neun Szenen liegen manchmal mehrere Jahre auseinander, manchmal auch nur wenige Stunden, und sie nehmen die Zuschauer mit auf eine emotionale, manchmal fast bis an die eigene Schmerzgrenze verstörende Reise in das Innenleben dreier Menschen auf dem Weg von Liebe und Freundschaft hin zu gegenseitigem Betrug und endgültiger Entfremdung.

Dabei gibt es kein Gut und kein Böse, kein Täter und kein Opfer. Man kann sich als Zuschauer nicht entspannt zurücklehnen und sich guten Gewissens auf eine der Seiten schlagen. Denn „Betrayal“ ist, wie der Titel es auf den Punkt bringt, eine Geschichte des Betrügens. Emma und ihr Liebhaber Jerry (Charlie Cox) betrügen mit ihrer sieben Jahre dauernden Affäre Robert, den Ehemann und besten Freund. Dieser betrügt in derselben Zeit Emma mit anderen Frauen. Und er betrügt Jerry, indem er, obwohl er schon seit vielen Jahren um die Affäre der beiden weiß, diesen in dem Glauben lässt, nichts davon zu wissen. Und nicht zuletzt betrügt auch Jerry durch die Liasion mit Emma nicht nur Robert, sondern auch seine eigene Frau Judith.

Das Stück beginnt mit einem Treffen von Emma und Jerry, zwei Jahre nach dem Ende ihrer Affäre.  Zwar haben die beiden sich lange nicht mehr gesehen, jedoch verspürt Emma den Drang, Jerry davon zu erzählen, dass ihre Ehe mit Robert endgültig zu Ende ist. Und dass sie ihm die Affäre mit Jerry gebeichtet hat. Darüber ist Jerry so entsetzt, dass er daraufhin sofort das Gespräch mit Robert sucht. Dieser erwähnt beiläufig, dass er bereits vier Jahre zuvor von der Affäre erfahren hat, von Emma selbst. Dieses Geständnis wirft Jerry dann vollends aus der Bahn und es entspinnt sich ein Dialog, der bei aller Tragik der Ereignisse viele komische Momente hat und das Publikum laut lachen lässt. Warum er es nicht gewusst habe, dass Robert es gewusst hat, fragt Jerry. Er wusste nicht, dass Jerry nicht wusste, dass er es wusste, antwortet Robert. Robert fühlt seine momentane Überlegenheit gegenüber dem völlig verständnislosen Jerry und kostet diese genüsslich und mit triefendem Sarkasmus in Sprache und Habitus aus. Das verbale Ping-Pong-Spiel dauert schier endlos, bis Robert es mit einem einzigen Satz beendet: „Du hast überhaupt nicht viel gewusst, oder?“. Was vor allem in diesen, aber auch in den anderen Szenen des Stücks auffällt ist, dass der eigentliche Kern der Geschichte, nämlich die Affäre, in den Gesprächen scheinbar nicht die Hauptrolle zu spielen scheint. Sie wird eingepackt in reichlich belanglosen Smalltalk über die Arbeit, Fragen nach dem Befinden der Kinder, über Schriftsteller (Robert ist Verleger, Jerry Literaturagent), den nächsten Urlaub, Squash-Verabredungen etc. Hier zeigt Harold Pinter in komprimierter Form den zutiefst menschlichen Wunsch danach, unangenehme oder beängstigende Themen möglichst weit von sich zu schieben und sich stattdessen in banalen Alltäglichkeiten sicher fühlen zu wollen. Doch wie im echten Leben funktioniert diese Form der Verdrängung auch im Stück nicht: Im Bruchteil einer Sekunde ist man doch da, wo man eigentlich nicht hin wollte, aber auch genauso schnell wieder zurück, wenn man sich eigentlich nichts mehr zu sagen hat.

Während der Szenen sind alle drei Darsteller immer auf der Bühne präsent, selbst wenn einer von ihnen gerade keinen aktiven Part hat. Das gibt dem Stück einen zusätzlichen Blickwinkel, denn die nichtbeteiligte Person reagiert immer in irgendeiner Form auf das eigentliche Geschehen – mit Blicken, Gesten, Mimik oder Bewegungen. Dabei rücken Aktion und Reaktion im Verlauf des Stückes immer näher zueinander. Steht Robert in der ersten Szene noch sehr weit weg von Jerry und Emma, sitzt er in einer späteren Szene, als die beiden sich in ihrem „Liebesnest“, einer extra angemieteten Wohnung, treffen, direkt neben Jerry auf einem Stuhl und verfolgt das Gespräch. Dreht man das Stück wieder in die chronologische Abfolge, ist dieser dramaturgische Kniff ein sichtbares Synonym für das immer stärkere Auseinanderdriften der Charaktere, ihre innerliche Entfremdung wird auch äußerlich sichtbar.

Eine ganz ähnliche Wirkung hat die bewegliche Rückwand der Bühne. Diese rückt im Verlauf des Stückes immer näher an die Protagonisten und damit auch an das Publikum heran. Im Zusammenspiel mit dem fast unbarmherzig harten Bühnenlicht entstehen so Schattenspiele auf der Wand, die fast eine zweite Handlungsebene bilden und man kann sich als Zuschauer dieser Doppelung des Geschehens nicht entziehen. Das minimalistische Bühnenbild, das Lichtdesign, die Schattenwand und die sparsamen, aber pointierten körperlichen Aktionen der Schauspieler fokussieren das Stück auf die Sprache.  Dabei lebt „Betrayal“ nicht nur von dem Gesagten, sondern vor allem auch von dem Ungesagten. Immer wieder gibt es lange Pausen zwischen den Sätzen, die manchmal nur aus einem Wort bestehen. Pausen, die auch den Zuschauer fast körperlich schmerzen und in denen dann die drei Protagonisten ihr ganzes schauspielerisches Können unter Beweis stellen.

Allen voran Tom Hiddleston. Er zeigt in der Rolle des Robert die ganze Bandbreite seines Könnens, wechselt innerhalb von Sekunden zwischen überdrehtem Sarkasmus zu tiefer Betroffenheit, echte Tränen inklusive. Der Moment, in dem Emma Robert die Affäre mit Jerry gesteht, die zu diesem Zeitpunkt bereits fünf Jahre andauert, ist für mich einer der emotionalen Höhepunkte des Stückes. Für einen kurzen Moment bröckelt die Fassade des erfolgreichen, eloquenten Oxford-Absolventen, der ganz nach britischer Art seine wahren Gefühle nicht nach außen kehrt. Für diesen einen Moment bricht er innerlich zusammen, Tränen des Schmerzes laufen über sein Gesicht, während er mühsam noch Worten ringt. Schon zwei Szenen später zeigt uns Hiddleston eine ganz andere Seite, nämlich seine komische, die man leider bisher auch in seinen Filmen viel zu wenig von ihm gesehen hat. Robert trifft sich nach dem Geständnis von Emma mit Jerry zum Lunch, jedoch ohne diesem davon zu erzählen. Aber er ist voll unterdrückter Wut, das ist deutlich zu spüren. Statt jedoch Jerry zur Rede zu stellen, schimpft er über sich, seinen Beruf und schlechte Literatur im Allgemeinen, lässt seine Wut mit Messer und Gabel an Schinken und Melone aus und trinkt in zu kurzer Zeit zu viel Wein: „Ich bin nicht betrunken. Von Corvo Bianco kann man gar nicht betrunken werden.“ Viel Gelächter in dieser Szene im Publikum, fast eine Art Befreiung nach dem emotionalen Crash kurz vorher. Und doch bleibt der Kloß im Hals, denn hinter der Aufgedrehtheit steckt natürlich tiefer Schmerz, der verborgen werden will.

Charlie Cox‘ Jerry erscheint als Counterpart zu Hiddlestons meist dominantem Robert als der gutherzige, nahezu etwas naive Symphatieträger. Immer wieder lässt er mit großen Augen und fast schon ungläubigem Staunen Roberts Ausbrüche über sich ergehen. Und das nur, um die Freundschaft zu bewahren. Wenn er mit Emma zusammen ist, fällt diese Naivität nahezu vollends von ihm ab. Er gibt sich ganz seiner Liebe hin, die ehrlich ist, auch wenn er damit seinen besten Freund hintergeht. Auch wenn das schlechte Gewissen darüber ab und an durchblitzt, ist Jerry zu schwach, um die Affäre zu beenden. Und er hat sie bewusst begonnen, damals, auf einer Party, als er Emma seine Liebe gestand. Dies ist die letzte Szene im Stück und sie endet mit einem großartigen Bild: Emma zwischen beiden Männern, jeder zieht an einem Arm. Am Ende lässt sie Roberts Hand los.

Diese Zerrissenheit prägt Zawe Ashtons Porträt der Emma über das ganze Stück hinweg. Sie lacht oft, zu oft, zu laut, zu schrill, zu künstlich, als das es echt sein könnte. Nur manchmal wirkt sie wirklich glücklich, in den Anfangsjahren ihrer Affäre mit Jerry. Über weite Strecken wirkt sie kühl, fast unbeteiligt an ihrem über ihr zusammenbrechenden Leben. Doch dann plötzlich öffnet sie sich, lässt ihre Traurigkeit zu, bricht unter der emotionalen Last zusammen.

Die hervorragenden schauspielerischen Leistungen der drei Akteure, ihr perfektes Zusammenspiel, gepaart mit einer auf diese Fähigkeiten und die vielfältigen Möglichkeiten der Interpretation von Pinters Text zugeschnittenen Regie machen „Betrayal“ zum krönenden Abschluss der „Pinter at the Pinter“-Saison und zu einem ganz besonderen Theatererlebnis.

 

(Fotos: Mark Brenner)

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