Ganz große Gefühle mit russischer Seele

Deutsche Erstaufführung für „Doktor Schiwago“-Musical

„Doktor Schiwago“ ist wohl einer DER Filmklassiker der 20. Jahrhunderts. Ausgezeichnet mit sechs Oscars ist der Film, mit dem Omar Sharif in der Rolle des Titelhelden unsterblich wurde, bis heute ein filmisches Sinnbild für tragische Liebe und russische Seele.
Den Versuch, diesen Stoff als Musical auf die Bühne zu bringen, unternahm im Jahr 2006 die zweifache Grammy-Preisträgerin Lucy Simon. Uraufgeführt in San Diego, Tourproduktionen durch Australien und Südkorea und schließlich im Jahr 2015 die Premiere auf dem Broadway – doch der ganz große Erfolg blieb dem Schiwago-Musical bisher versagt. Am Broadway wurde es schon nach 26 Previews und nur 23 regulären Vorstellungen wegen mangelnder Kartennachfrage wieder abgesetzt.
Nun hat sich Regisseur Cusch Jung des epischen Stoffes angenommen und „Doktor Schiwago – Das Musical“ als deutschsprachige Erstaufführung auf die Bühne der Musikalischen Komödie in Leipzig gebracht. Wer jetzt allerdings eine Adaption des Films oder gar der 700-seitigen Romanvorlage, eben nur mit Musik, erwartet, der könnte enttäuscht werden, denn das ist es nicht. Natürlich ist Boris Pasternaks Geschichte eines Mannes, zerrissen zwischen zwei Gesellschaftsformen, zwei Frauen und zwei Berufungen die Grundidee aller drei Kunstformen. Und doch ist ein Film eben kein Roman und ein Musical kein Film.

So ist das Schiwago-Musical in erster Linie eine Liebesgeschichte, eine tragische und im wahrsten Sinne des Wortes herzzerreißende noch dazu. Die gesellschaftlichen und lokalkoloristischen Aspekte treten im Vergleich zum Buch in den Hintergrund, bilden aber natürlich die zeitlichen und örtlichen Bezugspunkte der Hauptgeschichte. Und so kommen mir mehr als einmal Bilder aus Boublil/Schönbergs Longrunner „Les Misérables“ in den Sinn, z.B. wenn die Rebellen in Formation und rote Fahnen schwenkend die alte Gesellschaft und ihre aristokratischen Vertreter in Gestalt der Familie von Juri Schiwago zum Ende des ersten Aktes endgültig aus Moskau in die Bedeutungslosigkeit der Provinz vertreiben. Ein starkes Bild, mit dem das Publikum da in die Pause entlassen wird.
Überhaupt schafft Cusch Jung es während des gesamten Stückes, eindringliche, bewegende und in Erinnerung bleibende Bilder auf die Bühne zu bringen. Angefangen von den Beisetzungen von Juris Vater zu Beginn bis zu Juris eigener am Ende, die die Klammer der Geschichte bilden, über die beklemmenden Schlachtfeldszenen bis hin zum emotionalen Abschied von Juri und Lara in dem verlassenen Gutshaus. Zur vollen Wirkung gebracht werden diese Bilder mit Unterstützung der wunderschönen und zeitgetreuen Kostüme und der wandelbaren Bühne, beides aus der Hand von Karin Fritz.
Und dann ist da die Musik. Für mich persönlich ist der Soundtrack von „Doktor Schiwago“ einer der schönsten überhaupt. Up-Tempo-Nummern, Anleihen an russische Volksweisen und Balladen mit Gänsehautgarantie – die Partitur hat alles, was ein Musical braucht. Und selbst „Lara’s Theme“, das bekannte Thema aus dem Film, findet sich wieder. Das Zusammenspiel vom Orchester unter der musikalischen Leitung von Christoph-Johannes Eichhorn und den Protagonisten auf der Bühne gelingt nahezu perfekt, ein paar kleine Unstimmigkeiten werden mit zunehmender Zahl der Vorstellungen ganz sicher auch noch verschwinden.
Die Riege der Protagonisten auf der Bühne bietet einen musikalischen und auch darstellerischen Hochgenuss – vom Chor und Ballett bis hin zur Titelrolle. Natürlich steht und fällt der Erfolg eines solchen Stückes, gerade wenn es eine Erstaufführung ist, mit der Besetzung der Hauptrollen. Und da ist der Musikalischen Komödie mit ihrer Cast ein ganz großer Wurf gelungen.
Jan Ammann ist seit Jahren einer der gefragtesten Musicaldarsteller in Deutschland und seine große Fangemeinde ist nahezu ein Garant für ein volles Haus. Tatsächlich hätte man die Rolle des Juri Schiwago kaum perfekter besetzen können. Immer wieder hat Ammann im Vorfeld der Premiere betont, wie sehr er die Musik des Stückes liebt und wie sehr die Erarbeitung seiner Rolle ihn emotional berührt hat. Und das ist ihm auf der Bühne anzumerken, im ganz positiven Sinn. Auch wenn es vielleicht abgedroschen klingen mag: Er spielt den Juri Schiwago nicht einfach nur, er IST Juri Schiwago. Mit jedem Ton, den er singt, jeder Geste, jeder Mimik und jeder Bewegung erweckt er die Figur zum Leben. Und diese Authentizität, mit der er die Rolle verkörpert, ist es dann wohl auch, die nicht wenige Zuschauer mehr als einmal zu Tränen rührt.
Doch natürlich ist Jan Ammann nicht allein auf der Bühne. Lisa Hartmann (Lara) und Hanna Mall (Tonia) verkörpern die Frauen an seiner Seite. Beide harmonieren aufs Beste mit ihrem männlichen Counterpart, sowohl schauspielerisch, aber vor allem auch sängerisch. So gehören die Duette „Ich seh den Mond“ (Juri/Tonia), „Jenseits aller Zeit“ (Juri/Lara) und „Sie und ich“ (Tonia/Lara) für mich zu den musikalischen Höhepunkten und den absoluten Gänsehautmomenten der Inszenierung.
Eine beeindruckende Vorstellung liefert auch Björn Christian Kuhn als Pascha/Strelnikov. Der Ehemann Laras wandelt sich vom unbekümmerten, aufsässigen Jungrebellen zum mordenden Fanatiker – und diese Wandlung meistert Kuhn mit eindrucksvollem schauspielerischen Können und großer gesanglicher Bandbreite. So ist es ein weiter Weg vom fröhlichen „Göttlich“ zu Beginn des Stückes bis zu seiner düsteren Prophezeiung „Ihr kommt nicht davon“.

Ergänzt wird die Riege der Gäste durch Darsteller des MuKo-Ensembles: Sabine Töpfer und Michael Raschle zum Beispiel verkörpern Tonias Eltern. Patrick Rohbeck schlüpft in die Rolle des Rechtsanwalts Komarowskij. Diesen hätte ich mir in der Figurenzeichnung im ersten Teil des Stückes noch ein bisschen stärker gewünscht, da wirkt er mir persönlich fast ein bisschen zu harmlos, besonders was seine Beziehung zu Lara betrifft. Seine Figur gewinnt erst im Verlauf des Stückes zunehmend an Tiefe und der nötigen Boshaftigkeit und Verschlagenheit.

Doktor Schiwago
Musical in zwei Akten | Musik von Lucy Simon | Buch von Michael Weller | Gesangstexte von Michael Korie und Amy Powers | Nach dem Roman von Boris Pasternak | Deutsch von Sabine Ruflair (Gesangstexte) und Jürgen Hartmann (Buch) | Deutschsprachige Erstaufführung
Kreativteam
Musikalische Leitung: Christoph-Johannes Eichhorn
Inszenierung: Cusch Jung
Choreografie: Mirko Mahr
Bühne, Kostüm: Karin Fritz
Choreinstudierung: Mathias Drechsler
Dramaturgie: Elisabeth Kühne

Besetzung
Jurij Schiwago: Jan Ammann
Larissa Guichard (Lara): Lisa Habermann
Antonina Gromeko (Tonia): Hanna Mall
Pavel Antipov (Pascha): Björn Christian Kuhn
Viktor Komarovskij: Patrick Rohbeck
Anna Gromeko/Olga: Sabine Töpfer
Alexander Gromeko: Michael Raschle
Markel/Gints: Milko Milev

Chor, Ballett, Orchester und Komparserie der Musikalischen Komödie

 

(Fotos: Kirsten Nijhof/Musikalische Komödie)

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