Tony Kushners “Engel in Amerika” am Schauspiel Magdeburg
Zwei Abende, zwei mal drei Stunden intensivstes Schauspiel, zweimal das Gefühl, nach dem Black am Ende der Vorstellung ganz tief durchatmen zu müssen: „Engel in Amerika“, der zweiteilige Theaterabend am Schauspielhaus Magdeburg ist einer von der Art, den man selbst als regelmäßiger Theatergänger nicht allzu oft erlebt und der auch nach dem Schlussapplaus noch lange nachhallt.
„Ich will mehr leben!“ – steht gleichsam als Überschrift, als roter Faden und als Fazit für das Stück, das am 28./29. Februar 2020 seine Premiere erlebte. Mehr leben! steht für den Wunsch nach Liebe, Anerkennung, Leidenschaft, Akzeptanz ebenso wie für die Gier nach Einfluss und Macht, aber auch für den unbedingten (Über)lebenswillen von Menschen, die eigentlich dem Tod geweiht, weil an AIDS erkrankt sind. Und das in einer Zeit, in der die Krankheit als „Schwulenseuche“ verschrien ist, weil noch niemand wirklich weiß, woher sie kommt und wie man ihr begegnen soll. Unkenntnis und Unsicherheit gegenüber dem Unbekannten als Triebfeder für Ausgrenzung, Diskriminierung und sogar Hass – mitten in der Gesellschaft und über alle Schichten und Religionen hinweg. Das macht Tony Kushners „Engel in Amerika“, geschrieben 1991 und angesiedelt im Amerika der späten 1980er Jahre, auch heute noch zu einem hochaktuellen Stück Theater. Als „Gay Fantasia on National Themes“ untertitelt Kushner sein Stück und das ist es auch: Ein schonungsloses und oft schmerzvolles Sittengemälde einer Gesellschaft, gemalt mit einer gehörigen Portion an Fantastischem und Überirdischem, allem voran mit dem Sinnbild von Engeln in verschiedensten Formen.
Zugegeben, es ist ein gewichtiger Brocken, den Magdeburgs Schauspieldirektor Tim Kramer sich selbst als Regisseur, seinem achtköpfigen Schauspieler-Ensemble und vor allem auch dem Publikum mit seiner Inszenierung zu schlucken gibt. Doch gut gekaut – um im Bild zu bleiben – entfaltet sich ein wunderbares Aroma und man verlässt am Ende zufrieden, wenn auch aufgewühlt die Lokalität. „Engel in Amerika“ ist kein Stück, von dem man sich einfach berieseln lassen kann und sollte, es erfordert ein wenig an Kraft, Anstrengung und auch ein bisschen an Mut, sich vollkommen darauf einzulassen, um seine Wucht vollends spüren zu können. Regieteam und vor allem die Schauspieler geben alles, um dem Zuschauer den Weg zu dieser Erfahrung zu bereiten, sofern dieser bereit ist, sich darauf einzulassen.
Kramers Inszenierung ist allein auf das Spiel seiner Protagonisten und die Kraft der Sprache fokussiert. Das Setting ist minimalistisch, ein klassisches Bühnenbild ist nicht vorhanden. Der Bühnenraum ist weiß, ab und an erscheint eine Projektion auf der Hinterwand oder ein Schatten dahinter. Die Stimmung der jeweiligen Szene erzeugen – dramaturgisch klug gesetzte – Licht- und Toneffekte. Grelles Weißlicht im Krankenhaus, gedimmtes Leuchten einer Stehlampe im heimischen Wohnzimmer, dazu mal klassische, mal sphärische Musik oder auch einfach eine Geräuschkulisse mit Blätterrascheln und Vogelgesang. Damit werden nicht nur Stimmungen erzeugt, sondern auch Spielorte geschaffen. Wenn zwei Männer an der Bühnenkante vor leerem Raum sitzen und nicht auf einer Bank unter Bäumen, weiß man trotzdem, dass man in diesem Moment mit ihnen im Central Park ist. Und wenn in Rays letzten Lebensminuten periodisch eine Schallplatte knackt, ohne einen Ton Musik zu spielen und dann plötzlich verstummt, dann ist klar, sein Leben ist am Ende – und plötzlich vorbei.
Ganz ohne Requisiten geht es jedoch natürlich nicht, aber auch dort bleibt es minimalistisch. Nur ein oder zwei Stücke pro Szene, gerade so viel, wie es für das Spiel braucht: ein Krankenbett, eine Matratze oder ein Sessel mit bereits erwähnter Stehlampe, mehr braucht es nicht, um die jeweilige Szenerie deutlich zu machen. Manchmal teilen sich auch zwei Szenerien die Bühne und die Handlungsstränge laufen parallel, um allmählich zu einem zu werden. Darin spiegelt sich die Handlung von Kushners Stück: drei Handlungsstränge, anfangs völlig voneinander unabhängig, verweben diese sich im Laufe der insgesamt sechs Stunden miteinander und am Ende ist jeder Charakter auf die eine oder andere Weise Teil der anderen.
Direkt zu Beginn des Stückes begegnet uns Roy M. Cohn, ein machtbesessener, von sich selbst überzeugter, vor Arroganz, Selbstliebe und rassistischen Vorurteilen strotzender republikanischer Rechtsanwalt, der seine Erfüllung in politischen Ränkespielen findet und die Nummer der First Lady im Telefonbuch hat. Roy ist schwul, was er jedoch öffentlich nie zugeben würde, und so verkauft er der Welt seine AIDS-Erkrankung als Leberkrebs. Damit will er seine Reputation retten, gleichzeitig ist diese Lüge aber auch der Versuch, sein Selbstbild nicht zu zerstören. Homosexualität ist für ihn ein Makel, den er weder an anderen und zu allerletzt an sich selbst duldet. Trotz seines langsamen Dahinsiechens, bis zu seinem qualvollen Tod, kann er nicht aus seiner Haut. Verkörpert wird Roy Cohn, dessen Figur als einzige im Stück auf einer realen Person basiert, in einer manchmal nahezu beängstigenden emotionalen Intensität von Christoph Bangerter. Mal schneidend arrogant, mal cholerisch ausbrechend, mal leise, mal leidend – Bangerter zeigt über das Stück hinweg die gesamte Bandbreite menschlicher Gefühlswelten.
Quasi sein Counterpart in jener ersten Szene des Stücks ist Joe, ebenfalls Anwalt, ebenfalls Republikaner (zumindest hat er sie gewählt), aus einer mormonischen Familie. Er ist noch ziemlich am Anfang seiner Karriere und wird so zum leichten Spielball von Roy, der ihn nach oben, nach Washington, bringen will, damit er in seine Fußstapfen treten möge. Auch Joe ist homosexuell, weiß dies aber zu Beginn des Stückes noch nicht und würde es sich auch nie eingestehen. Als Mormone ist er homophob erzogen von einer dominanten und streng gläubigen Mutter, außerdem ist er verheiratet. Dass er schwul sein könnte, käme ihm gar nicht in den Sinn, auch wenn er spürt, dass etwas in ihm ihn nicht glücklich sein lässt.
Dies schiebt er jedoch auf seine Frau Harper, die ebenfalls mit ihrem Leben hadert, sich mit Valium vollstopft und in Fantasien und den Medikamenten geschuldete Halluzinationen flüchtet. Andreas C. Meyer vollzieht in der Rolle des Joe die Verwandlung vom verklemmten, sich in Konventionen versteckenden Durchschnittstypen zu einem bekennenden Homosexuellen, der einem anderen Mann seine Liebe gesteht, während er nackt über den Strand läuft und über sein unglückliches Verliebtsein sogar seine jahrelang anerzogene Zurückhaltung verliert und die Frustration all dieser verlogenen Jahre herausschreit. Seine Frau, Harper, wird gespielt von Anja Signitzer. Sie wirkt immer so, als wäre sie nicht von und auf dieser Welt, sie lebt fast ausschließlich in ihren Fantasien. In ihren klaren Momenten zerbricht sie fast an der Wirklichkeit, vor allem an der fehlenden Liebe ihres Mannes. Auch sie macht eine Wandlung durch und entwickelt eine Stärke, die sie selbst nicht in sich vermutet hätte.
Wenn es überhaupt einen Hauptcharakter in „Engel in Amerika“ gibt, dann ist es der von Prior Walter. Letztendlich laufen in dieser Figur alle Fäden zusammen, ihr sind die letzten Worte im Stück vorbehalten: „Wir werden keines versteckten Todes mehr sterben. Die Welt dreht sich nur vorwärts.“ In Magdeburg wird Prior gespielt von Ralph Opferkuch. Dieser lässt die Zuschauer mit seiner Figur leiden, hoffen, sehnen, man leidet seine Schmerzen, man erlebt seine Engelsvisionen, man fühlt seine Hoffnung auf mehr Leben. Man wird vom bloßen Betrachter zum Teil dieses seines Lebens und Leidens.
Die wohl ambivalenteste Figur im Spiel ist wohl Louis, gespielt von Christoph Förster, der Geliebte Priors und nicht praktizierender Jude. Man weiß nie, ob man sich vor Abscheu von ihm abwenden, ihn aus Mitleid in den Arm nehmen oder ihm ob seiner nahezu philosophischen Zustandsbeschreibungen der amerikanischen Demokratie, der Bedeutung von Religionen, der Abwesenheit von Gott und der Welt im Allgemeinen zustimmend auf die Schulter klopfen soll.
Ergänzt wird die großartige Darstellerriege von Iris Albrecht als Joes mormonische Mutter, Maike Schroeter als Engel und Rahul Chakraborty als Pfleger Belize. Sie alle leisten Beeindruckendes in diesem komplexen und fordernden Stück, das auch 27 Jahre nach seiner ersten Aufführung nichts an Wahrheit eingebüßt hat und in großen Teilen heute noch – wenn auch unter veränderten Bedingungen – genauso aktuell und wichtig ist wie damals im Jahr 1993.
Am Ende des Stückes sind die Schicksale und Leben, aber auch das Sterben aller miteinander verwoben, ohne jedoch wirklich miteinander verschmolzen zu sein. Ein Happy End ist es wohl nicht, wenn das Licht nach den zwei mal drei Stunden zum letzten Mal verlöscht, wohl aber ein Hoffnungsschimmer. Und eine Kampfansage.
Engel in Amerika
Tony Kushner
Zwei Premieren an zwei Abenden
Teil I: Die Jahrhundertwende naht
Teil II: Perestroika
Deutsch von Frank Heibert
Kreativteam:
Regie Tim Kramer
Bühne Gernot Sommerfeld
Kostüme Natascha Maraval
Musik Karolin Killig
Dramaturgie Laura Busch
Besetzung:
Hannah etc. Iris Albrecht
Engel etc. Maike Schroeter
Harper etc. Anja Signitzer
Roy Cohn etc. Christoph Bangerter
Bélize etc. Rahul Chakraborty
Louis Ironson etc. Christoph Förster
Joe etc. Andreas C. Meyer
Prior Walter etc. Ralph Opferkuch