When Musical Meets History

10. Februar 2019 – Colosseum Theater Essen

 

An einem verregneten Sonntag zieht es unzählige Besucher nach Essen. Zunächst dicht gedrängt unter Regenschirmen, in Hauseingängen oder mit zwischen die Schultern gezogenen Köpfen stehen sie am späten Nachmittag in der Nähe des Colosseum Theaters, ihrem heutigen Ziel und warten darauf, dass sich die Pforten öffnen um sie einzulassen.

Der Abend greift das in allen Köpfen vorherrschende Thema nicht nur als Titel des Konzerts auf, sondern vereint noch vieles mehr gerade an diesem Veranstaltungsort. Alle Zuschauer werden zu Zeitreisenden, sind geschichtlich interessierte Gäste und dazu überaus musicalaffine Menschen. Bereits mit Betreten der in den Jahren 1900 und 1901 erbauten, am Ostrand der ehemaligen Essener Krupp-Gussstahlfabrik gelegenen dreischiffigen Industriehalle, wird ein jeder irgendwie in die Vergangenheit zurückversetzt. Die ehemals 8. Mechanische Werkstatt eines der größten früheren Arbeitgeber der Region, in der unter anderem Lokomotivrahmen und Kurbelwellen für Schiffe hergestellt wurden, kommt heute zwar modern und aufgehübscht daher, allerdings konnten bei ihrem aufwändigen Umbau in ein Theater die historischen Grundzüge erhalten werden. Nicht nur die Metallkonstruktion ist weiterhin zu erkennen, auch hat man an einigen Stellen damals genutzte Maschinen – als Zeitzeugen – manifestiert. „When Musical meets History“ erzählt also nicht nur die Musikgeschichten der früheren Zeit, sondern findet in diesem Theater einen ebenfalls mehr als passenden Rahmen.

Seit November vergangenen Jahres, vor der historischen Warte aus gesehen einer eher kurzen Zeitspanne, steigt bei den Gästen die Spannung auf das heutige Konzert-Event. Pünktlich schließen sich die Türen, das Licht erlischt und gebannt schauen fast anderthalbtausend Augenpaare auf die große, von Spots erhellte Bühne. Auf der linken Seite positioniert sich eine neunköpfige Band unter der musikalischen Leitung von Mario Stork. Während mittig ein breiter Gang freigehalten wird, bildet auf der rechten Bühnenseite ein Podest, welches später zeitweise den Chor beherbergen wird ein symmetrisches Bild zu den Musikern.

Dass Liedtitel durchaus etwas auszusagen vermögen, auch wenn einem der Inhalt des kompletten Stücks oder Musicals vielleicht gar nicht geläufig ist, zeigt sich an diesem Abend besonders. Als in diesem Hinblick genialer Schachzug wird das Konzert von „Reise durch die Zeit“ aus „Anastasia“ eröffnet. Braucht es noch andere Worte um zu beschreiben, worauf die Zuschauer sich einlassen werden? – Wohl kaum. Begleitet und zugleich angeleitet werden die „Zeitreisenden“ von Mark Seibert, der vor jedem neuen Block den Inhalt des Stückes kurz zusammenfasst und ganz nebenbei auch Informationen zu den Komponisten liefert – Geschichtsunterricht quasi auf dem Silbertablett serviert.

Im ersten Akt des Abends, bestehend aus Liederblöcken zu „Der Medicus“, „Mozart!“ und „Marie Antoinette“ kann man diesen Gedanken mühelos fortsetzen. Stimmgewaltig wird er eröffnet, ist es doch keine Geringere als Michaela Schober, die den musikalischen Auftakt gefolgt von Patrick Stanke und Sabrina Weckerlin gibt. Kaum ist der letzte Ton des ersten Blockes verklungen, hallt die Liedzeile: „Und irgendwann kommt die Zeit, in der man tief im Herzen weiß: So fühlt sich Heimat an und dann schließt sich der Kreis“ noch lange nach. Erstmalig steht in diesem berührenden Lied mit dem treffenden Titel „Es fühlt sich nach Heimat an“, auch der zehnköpfige Chor mit auf der Bühne und unterstützt die Sänger tragend. Nichts anderes erwartet man von einem Konzert unter dem Label Sound of Music Concerts – ein Ankommen und Wohlfühlen, das Gefühl etwas Vertrautes zu erleben, auch wenn das Programm ein gänzlich Unbekanntes ist. Das ist ein Stück weit musikalische Heimat, enge Verbundenheit und es gelingt augenblicklich diese Stimmung von der Bühne ins Publikum zu transportieren.

Die Gänsehaut ist nach dem ersten Block noch nicht gänzlich verklungen, da lädt die fantastische Cast mit „Mozart!“ aus der Feder von Michael Kunze und Sylvester Levay bereits dazu ein, die Zeit zu vergessen. Zurückversetzt in die Lebzeiten des genialen Komponisten fällt es den Zuhörern nicht schwer, sich den Klängen hinzugeben. Michaela Schober verspricht nichts weniger als „Gold von den Sternen“, was man zu keiner Zeit anzweifelt, denn das gesangliche Potpourri verspricht großartig zu werden und für jeden Geschmack etwas zu bieten. Auch hier passt der Songtitel wieder exakt, denn alle sind einhellig der gleichen Meinung, ein wenig von diesem Sternenstaub finden und im Herzen tragen zu können. Erstmalig steht auch Moderator Seibert in diesem Block mit „Wie kann es möglich sein“ als herrlich zynischer Hieronymus Colloredo auf der Bühne.

Dass sie sich nicht langweilen will, tut Roberta Valentini in ihrem ersten Auftritt als Marie Antoinette aus dem gleichnamigen Musical kund. Aussagekräfig wird sie dabei vom Chor unterstützt und ebenso stimmen die Zuschauer mit der Erzherzogin überein, auch wenn sie es bereits jetzt besser wissen – bleibt der Spannungsbogen wie bis hierhin erhalten, wird definitiv alles anderes als Langeweile aufkommen. Gespannt kann man das Geschehen im und um das französische Adelshaus verfolgen und so manch eine Sequenz legt sich wie eine kalte Hand um die Herzen und entlockt nicht die ersten sichtbaren Emotionen an diesem Abend.

Dass es bei diesem Galakonzert der Extraklasse an Kostümen mangelt, mag man vielleicht in den ersten Augenblicken noch glauben, doch es lohnt sich nicht, einen zweiten Gedanken daran zu verschwenden. Allein über ihre Körpersprache und die wohl ausgewählten Songs vermögen die Künstler auch in feinem Zwirn mehr als gekonnt in eine Welt zwischen Traum und Realität zu entführen.

In der ersten Pause nach etwa anderthalb Stunden blickt man in emotionsgeladene Gesichter. „Ich hatte noch nie so viel Gänsehaut bei einem Konzert wie heute Abend.“, ist nur eine der Stimmen, die man vernimmt und denen man vorbehaltlos zustimmt. Bevor der Übertritt zurück in die sonntägliche verregnete Realität gänzlich abgeschlossen ist, ruft das Signal zum zweiten Akt. Auf geht es zu den nächsten Stationen dieser Zeitreise, diesmal durch „Der Glöckner von Notre Dame“, „Die Päpstin“ und „Les Miserables“.

Während knappe 450 Kilometer entfernt, in Stuttgart, in diesem Moment die letzte Vorstellung des „Glöckners“ über die Bühne geht, zeigt David Jakobs hier in Essen sein Können als Protagonist dieses Stückes auf selbiger. Augenblicklich versetzt er den Saal in atemloses Staunen, als er dem Buckligen aus Alan Menkens Feder Leben einhaucht. Auch Monika Staszak gibt als Esmeralda ein entzückendes, herzerwärmendes Bild. Wirklich bemerkenswert jedoch ist der Auftritt Lukas Weinbergers, der in die Rolle von Erzdiakon Frollo schlüpft und sein Gesangstalent einmal abseits des Chores unter Beweis stellen darf. Gern hätte man mehr von diesem überaus sympathischen jungen Mann gesehen. In die Rolle der „Päpstin“ Johanna schlüpft anschließend Sabrina Weckerlin, die diese maßgeblich prägen durfte. Scheinbar mühelos gelingt es ihr, das Publikum zu begeistern, an ihre Lippen zu fesseln und schließlich von den Sitzen zu reißen. Als ihr Geliebter Gerold fungieren am heutigen Abend gleich zwei Männer, Jan Ammann und Mark Seibert, deren „Traum ohne Anfang und Ende“ – als Duett vorgetragen – viele Herzen im Publikum höherschlagen lässt. Gab es bei Kevin Tartes erstem Auftritt noch anfängliche Tonschwierigkeiten, so sind diese spätestens behoben, als er in der Rolle des unbeugsamen Javert die Arie „Stern“ schmettert. Schönberg und Boublil liefern aus ihrem Meisterwerk „Les Miserables“ noch weitere Songs, die heute vorgetragen werden. Bereits im vergangenen Jahr teilten sich Kevin Tarte und Patrick Stanke darin als ständige Gegenspieler Javert und Jean Valjean die Freilichtbühne in Tecklenburg. Ebenfalls mit von der Partie war seinerzeit Florian Peters als Student Marius. Dass sie noch immer eins mit der Musik sind und es verstehen die Tragik der Geschichte auch in diesem formgebenden Rahmen anklingen zu lassen, beweisen sie ganz wunderbar in ihren jeweiligen Soli daraus. Atemberaubend in Erinnerung bleibt jedoch „Morgen schon“, welches von der Cast und dem Chor gemeinsam vorgetragen wird. Hier wird mit wenigen einfachen Mitteln ein Bild auf die Schaufläche gezaubert, welches sich bei allen Beteiligten unweigerlich einbrennt. Es rührt an, erzeugt ein tiefes Gefühl der Hoffnung und Verbundenheit, lässt mitfiebern und verabschiedet mit einem imposanten Schlussbild die Bühnenaktiven unter lang anhaltenden stehenden Ovationen in die zweite Pause.

Der Tag neigt sich fortschreitend seinem Ende entgegen. Draußen ist es in der Zwischenzeit dunkel geworden und die Nacht bricht langsam herein, während im Foyer und dem Theatersaal die Zuschauer noch immer gespannt auf den letzten Akt hin fiebern. Dieser verspricht besonders zu werden, beinhaltet er doch die Geschichten um Bayernkönig „Ludwig²“ und dessen ältere Cousine, die Kaiserin Sissi – „Elisabeth“ von Österreich. Untrennbar miteinander verwoben sind die Schicksale er beiden Träumer, die ihrer Zeit gedanklich weit voraus waren. Begonnen mit einem Querschnitt aus Konstantin Weckers, Christopher Frankes und Nic Raines Melodien wird das Publikum in die Zeit und Gedankenwelt des Märchenkönigs entführt. Optisch auf ganz wunderbare Weise gelungen ist der Übergang zu Michael Kunzes und Sylvester Levays Geisteskind, denn in jenem Moment teilen sich die Protagonisten beider Stücke für einen Moment bedeutungsschwer die Bühne. Die Kaiserin taucht in beiden Stücken auf, für einen Antagonisten ist ebenfalls gesorgt. Ein Höhepunkt jagt in diesem Block buchstäblich den nächsten und es fällt schwer etwas zu benennen, ohne Kleinigkeiten auszulassen, die dem Konzert Leben einhauchen. Absolut unerwartet brilliert Patrick Stanke als Luigi Lucheni mit einer überragenden Darbietung von „Milch“. Es ist das Unbekannte, was an dieser Stelle Begeisterung hervorruft, hätte man Stanke doch in dieser Rolle nie vermutet. Auch David Jakobs schafft es erneut mit einer immensen emotionalen Ausdruckskraft bei „Wenn ich dein Spiegel wär“ nachhaltig zu rühren.

Das Konzert endet nicht etwa mit den letzten Tönen von „Der Schleier fällt“, welches Mark Seibert in seiner Paraderolle als Tod und Roberta Valentini als Elisabeth darbieten. Erneut wird ein Gänsehautmoment geschaffen, bei dem sich alle Aktiven des Abends nach und nach noch einmal auf der großen Bühne versammeln. Emotionaler als mit „Schloß der Zukunft“ könnte ein solcher Abend kaum enden und die Gefühlsachterbahn durch die Zeiten stoppt nur langsam.

Fakt ist, dass Geschichte oder besser Mythen um historische Persönlichkeiten keineswegs langweilig sein müssen. Mit „When Musical Meets History“ ist Sound of Music Concerts an diesem Februarsonntag ein fulminantes neues Konzertformat der Extraklasse gelungen. Es entführt das Publikum scheinbar mühelos durch Raum und Zeit und lässt sie Zeugen von Geschehnissen werden, die lange schon zwischen den Deckeln der Geschichtsbücher ruhen. Der Aufwand der dafür betrieben wird ist immens. Eine insgesamt zwölfköpfige Cast aus namenhaften Darstellern der Musicalszene reicht sich Song für Song die Klinke in die Hand – jeder für sich genommen Extraklasse, doch gemeinsam ein Feuerwerk an Energie und Emotionen.

Eine Bühne wird auch zehn Nachwuchstalenten gegeben, die an den passenden Stellen stets unaufdringlich das Geschehen untermalen und sich hervorragend mit ihren gestandenen Kollegen ergänzen. Das Publikum weiß diese Auftritte sehr zu schätzen, denn bereits beim Mitternachtsball wurde ein ganz ähnliches Konzept genutzt. Dafür, dass diese Art Konzert so hervorragend funktioniert, bedarf es selbstverständlich neben den Sängern auch Livemusik. Die Musiker harmonieren hervorragend miteinander und passen auf dieser Zeitreise nicht nur optisch ins Bild. Den musikalischen Leiter Mario Stork bei seiner leidenschaftlichen Arbeit zu beobachten, hin und wieder den Blick von den Sängern auch auf diese „Nebenschauplätze“ abzuwenden, lohnt sich gewaltig. Hier sieht man die Liebe zum eigenen Beruf in jeder Bewegung. Drei Akte zu je fast anderthalb Stunden verlangen allen eine Menge ab. Allen voran den Musikern, die ihre Sänger den Abend hindurch beinahe ohne Pause begleiten – einen Extraapplaus verdienen sie unbesehen. Es bleibt zu hoffen, dass das von Andreas Luketa erdachte und von Yara Hassan zum Bühnenleben erweckte Projekt mit diesem großartigen Erfolg die Möglichkeit erhalten wird, irgendwann noch einmal aufgeführt zu werden.

Selten hat man bei einem Konzert das Gefühl, dass so vieles richtig gemacht wurde. Die Begeisterungsstürme halten auch in der regnerischen Nacht noch lange an und man hat immer wieder das Gefühl ein kleiner Teil einer großen Familie zu sein. Man darf gespannt sein, was die Verantwortlichen sich in diesem und den kommenden Jahren noch ausdenken werden. Mit Sicherheit lässt sich jedoch eines sagen, wenn Musical und Geschichte zusammentreffen werden Träume wahr und Projekte entwachsen über Nacht den Kinderschuhen.

Sound Of Music – Concerts
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