Moliéres “Der Menschenfeind” am Theater Magdeburg
„Ne me touchez pas“ steht in prominenten, beleuchteten Lettern an der Bühnenrückwand – unübersehbar für jeden, der den Zuschauerraum des Schauspielhauses in Magdeburg an diesem Abend betritt. Und damit ist eigentlich auch schon alles gesagt – über das Stück, über die Hauptfigur und über den derzeitigen Zustand der Welt außerhalb des Theaters. Kaum ein anderes Stück repräsentiert diesen wohl besser als Moliéres „Der Menschenfeind“, das am 26. September seine Premiere im Theater Magdeburg erlebte.
Dabei war diese besondere Aktualität nicht einmal Absicht, stand diese Premiere doch schon für Mai auf dem Programm und wurde aufgrund der coronabedingten Theaterschließungen verschoben. Ohne die ursprüngliche Inszenierungsidee von Regisseurin und Schauspiel-Chefdramaturgin Elisabeth Gabriel zu kennen, darf vermutet werden, dass sich die jetzt gezeigte Version deutlich von dieser unterscheidet. Abstandsgebote und Berührungsverbote erweisen sich in diesem speziellen Fall mehr als Segen denn als Fluch oder notwendiges Übel, sind sie doch elementarer Bestandteil der Aktivitäten auf der Bühne, vor allem natürlich der Hauptperson. Diese heißt Alceste und wird in der Magdeburger Aufführung gespielt von Tim Kramer, dem Schauspielchef des Theaters. Er ist bereits von seinem Aussehen als auch von seinem Verhalten her das komplette Gegenteil zu den anderen Figuren auf der Bühne. Während alle anderen und auch die Bühne in Glitzer und Glamour und immer ein bisschen über den Rand zur Geschmacklosigkeit hinaus daherkommen, ist Kramers Alceste schwarz, farblos und fast ein wenig unscheinbar. Aber nur scheinbar. Denn eigentlich ist natürlich er der mit der größten Stärke, zumindest in charakterlicher Hinsicht. Denn er ist es, der Heuchelei und scheinheilige Freundlichkeit zutiefst verabscheut, der sagt, was er denkt und nicht, was sein Gegenüber vielleicht am liebsten hören möchte. Er ist schonungslos ehrlich, ohne sich um die Konsequenzen zu scheren. „Ich will der sein, der ich bin.“
Tim Kramer weiß in dieser Rolle zu überzeugen. Er ist kein laut polternder, hasserfüllter Unsympath, vielmehr jemand, der den Kontakt zu Menschen am liebsten von vornherein meidet. Trifft er dann ungewollt doch auf diese, merkt man ihm den Ekel in Gestik und Mimik deutlich an. Das Gesicht friert ein und der Körper wird kleiner, zieht sich förmlich in sich selbst zurück. Und kommt ihm jemand zu nah, weicht er zurück, nicht selten mit einem Hauch von Panik im Gesicht. Selbstbeherrschung bis zur Schmerzgrenze, bevor diese Grenze dann bricht und der unweigerliche Ausbruch folgt. Mehr Menschenangst als Menschenhass, mehr Phobiker als Choleriker. Und so kommt es, dass man sich als Zuschauer, auch wenn man nicht jede von Alcestes Verhaltensweisen gutheißen kann oder will, am Ende klar auf seine Seite schlägt.
Ganz im Gegensatz zu Alceste sind die anderen Figuren laut, schrill, oberflächlich, verlogen. Nur ganz selten lassen sie sich für einen kleinen Augenblick in die Seele blicken, ansonsten haben sie eine Maske aufgesetzt. Und das im wahrsten Sinne des Wortes, denn immer wieder ziehen sie diese sichtbar übers Gesicht. Auch tragen sie – anders als Alceste – Reifrock-Gestelle über der ansonsten unserer heutigen Zeit angepassten Kleidung. Sie sind das einzige äußere Zeichen aus der Entstehungszeit des Stückes, gleichzeitig aber auch ein Korsett, das die Trägerinnen und Träger in ihrer oberflächlichen Scheinheiligkeit gefangen hält. Da ist vor allem Célimène, eine junge Witwe, die ihr Leben genießt, indem sie es zu einer ewigen Party macht und reichlich Bewunderer um sich schart. Warum ausgerechnet Alceste sich in sie verliebt, die alles verkörpert, was er so abgrundtief hasst, bleibt wohl das ewige Geheimnis des Stückes. Vielleicht ist es die Anziehung des Unbekannten, der Gegensätze. Undine Schmidl interpretiert Célimène so, wie die Rolle sein soll, oberflächlich, mit reichlich Arroganz und Selbstverliebtheit, Empathie Fehlanzeige.
Ein Höhepunkt der nur gut anderthalb Stunden dauernden Inszenierung ist der Auftritt von Oronte. Er verehrt Alceste, bietet ihm die Freundschaft an und wünscht dessen Meinung zu einem seiner Sonette. Natürlich endet alles im Desaster, aber Christoph Bangerter als lächerlicher Poet macht diese Szene zu einem komödiantischen Hochgenuss. Nach dem Versuch, Alcestes Wohlwollen mittels Rose, Handschlag (natürlich mit Gummihandschuh) und reichlich verbalem Süßholz zu erlangen, entert Oronte die Bühne (einen Stuhl), ergreift das Standmikro (wie ein Rockstar) und zelebriert förmlich sein Sonett „Die Hoffnung“. Seine ständigen Unterbrechungen und Neuversuche amüsieren das Publikum – und nerven Alceste, der nach und nach mit seinem Stuhl die Seitenwände der Bühne erreicht und dem Geschehen zu entfliehen versucht.
Die Inszenierung hält noch weitere Höhepunkte parat, wie etwa das Wortgefecht zwischen Célimène und Arsinoé (Saskia von Winterfeld) oder der Schlagabtausch zwischen Acaste (Frederik F. Günther) und Clitandre (Thomas Schneider). Andreas C. Meyer als Alcestes Freund Philinte, Carmen Steinert als Célimènes Cousine Eliante und Nicholas Spindler als Basque (mit Mund-Nasen-Schutz) komplettieren das Ensemble, welches das fast 350 Jahre alte Stück mit ihrer Spielfreude erfreulich staubbefreit und modern interpretiert, als sei es speziell für unsere Zeit geschrieben. „Wir Menschen gelten als vernünftige Wesen. Wer das behauptet, ist nie Mensch gewesen,“ sagt Alceste gegen Ende des Stückes – und selten war diese Feststellung aktueller als heute.
Inszenierungsteam
Regie: Elisabeth Gabriel
Bühne: Vinzenz Hegemann
Kostüme: Ingrid Leibezeder
Musik: Nikolaus Woernle
Choreografische Beratung: Juan-Pablo Lastras Sánchez
Dramaturgie: Caroline Rohmer, Laura Busch
Besetzung
Alceste: Tim Kramer
Philinte: Andreas C. Meyer
Oronte: Christoph Bangerter
Célimène: Undine Schmiedl
Eliante: Carmen Steinert
Arsinoé: Saskia von Winterfeld
Acaste: Frederik F. Günther
Clitandre: Thomas Schneider
Basque: Nicholas Spindler