Doktor Schiwago (Freilichtspiele Tecklenburg)
„Silberbirken steh’n, alterslos und kühn…“ singt Larissa (Lara) Guichard, wenn sie am Ende des Musicals „Doktor Schiwago“ allein mit der gemeinsamen Tochter Katharina ihrem geliebten Jurij an seinem Grab die letzte Ehre erweist. Und währenddessen stehen sie tatsächlich dort, die Birken, im Hintergrund, wie schon zu Beginn des Stückes, als Lara und Jurij noch Kinder waren und noch nicht von der Existenz des jeweils anderen wussten.
Diese stilisierten Birken sind es, die den Hauch russischen Gefühls in das ansonsten sehr reduzierte, jedoch funktionale Bühnenbild der „Doktor Schiwago“-Inszenierung auf der Freilichtbühne Tecklenburg zaubern. Regisseur Ulrich Wiggers und Bühnenbildner Jens Janke arbeiten vor allem mit Andeutungen. Hier und da ein Stuhl, ein Bett oder ein Stacheldrahtzaun, im großen Ganzen lenkt aber nichts vom Spiel der Darsteller ab. Die Handlung, das Spiel und die Stimmen stehen bei der Tecklenburger Musicalversion dieses literarischen Epos‘ von Boris Pasternak ganz eindeutig im Vordergrund.
Dafür hat Ulrich Wiggers eine Besetzung gewählt, die es schafft, die Geschichte um den Mann zwischen zwei Frauen in Zeiten großer gesellschaftlicher Umbrüche glaubhaft, berührend und musikalisch auf höchstem Niveau auf die renommierte Freilichtbühne zu bringen.
Mit Jan Ammann konnte jener Darsteller gewonnen werden, der der Figur von Jurij Andréitsch Schiwago im deutschsprachigen Raum quasi das Gesicht gegeben und damit seinen Stempel aufgedrückt hat (Er spielte diese Rolle bei der Deutschsprachigen Erstaufführung an der Musikalischen Komödie Leipzig.). Das spürt man ganz deutlich in der Darstellung und im Gesang. Für Ammann scheint dies nicht einfach nur eine Rolle zu sein. In gewisser Weise wirkt es fast so, als sei Schiwago ein Teil von ihm und er ein Teil von Schiwago. Zumindest für die Dauer der Show. Das Ergebnis ist eine Vorstellung, wie sie besser, glaubhafter und emotionaler kaum sein kann. Dazu kommt die fast schlafwandlerische Sicherheit, mit der Jan Ammann die anspruchsvollen Lieder interpretiert. Die Arbeit, die sich dahinter verbirgt, merkt man ihm nicht an.
Ihm zur Seite stehen Wietske van Tongeren als Schiwagos Frau Tonia und Milica Jovanovic als Lara, die Liebe seines Lebens. Behütet, sorglos und gut situiert aufgewachsen die eine, in ärmlichsten Verhältnissen, ohne Vater, dafür mit einem sie missbrauchenden „väterlichen Freund“ vom Kind zur Frau geworden die andere. Zwei Frauen, wie sie unterschiedlicher nicht sein können und doch eint sie eines: die Liebe zu Jurij. Und diese Liebe ist es, die im Laufe des Stückes beide Frauen eine auch für das Publikum sicht- und
spürbare Wandlung durchmachen lässt. Wietske van Tongeren lässt ihre Tonia vom sorglosen, selbstbewussten, fast ein bisschen hochmütigen Teenager zu einer Frau werden, die sich aufgrund von Krieg und Bürgerkrieg viele Jahre ohne ihren Mann durchschlagen, mit plötzlicher Armut fertig werden, aus ihrem Zuhause in die Fremde fliehen und den Tod ihrer Eltern verkraften muss, nur um schließlich festzustellen, dass sie ihren Mann an eine andere Frau verloren hat. Doch lassen sie diese Schicksalsschläge nicht, wie man vermuten könnte, verbittern, vielmehr gibt sie Jurij frei, weil sie erkennt, dass sie gegen die Liebe zwischen ihm und Lara nichts ausrichten kann. Im Laufe dieser Geschehnisse wandeln sich nicht nur das Äußere Tonias, sondern auch die Art ihres Auftretens und sogar ihre Stimme. Während das erste „Sieh zum Mond“ trotz des bevorstehenden Abschieds von ihrem Mann an die Front noch kraft- und hoffnungsvoll klingt, ist die Reprise gegen Ende des Stückes, wenn Jurij im selbstgewählten Versteck ihren Abschiedsbrief liest, deutlich weicher, voll des Wissens um ihren Verlust und trotzdem voller Liebe.
Eine noch gravierendere Veränderung erfährt die Figur der Lara. Vom unterdrückten und geschundenen, verzweifelten Mädchen hin zu einer Frau, die bedingungslos um den geliebten Mann kämpft und trotzdem ihre Vergangenheit nie wirklich ablegen kann, interpretiert Milica Jovanovic diese Rolle in all ihren Nuancen. Mal verzweifelt, mal überbordend vor Lebensfreude, mal sich den Umständen ergebend gelingt es auch ihr, in Spiel und Stimme diese Veränderungen greifbar und begreifbar zu machen. So ist auch bereits ihr erstes Solo „Wenn die Geige singt“ einer der großen Gänsehautmomente der Aufführung.
Doch nicht nur die Frauen verändern sich, bei den männlichen Rollen ist es vor allem Dominik Hees als Pascha Antipov/später Strelnikov, der wohl die stärkste Wandlung innerhalb der knapp dreieinhalb Stunden vollzieht. Zu Beginn ein jugendlich-idealistischer Revoluzzer, der die Welt auf den Kopf stellen und zum Besseren verändern will, verhärtet er zusehends in der Brutalität des Krieges, um
schlussendlich als Partisanenanführer Strelnikov seine früheren Ideale regelrecht zu verraten. Selbst Lara, die ihn eins geliebt und geheiratet hat, ist am Ende voller Angst vor ihm und seiner brutalen Rache gegenüber ihr und vor allem Schiwago. Dominik Hees beweist hier seine Wandlungsfähigkeit und die Breite seiner Möglichkeiten, sowohl in darstellerischer als vor allem auch in sängerischer Hinsicht.
Der wohl unsymphatischste Charakter der Geschichte ist sicherlich Viktor Komarowskij, Anwalt der Familie Schiwago und Vergewaltiger Laras. Dieser wird verkörpert von dem vor allem aus dem TV bekannten Schauspieler Bernhard Bettermann. Dass dieser den
schmierigen, egozentrischen und seinen pelzbesetzten Mantel nach dem jeweiligen Wind hängenden Charakter schauspielerisch hervorragend umsetzen würde, daran gab es sicher keine Zweifel. Aber er überrascht auch mit einer guten und vor allem sehr eigenen und wieder erkennbaren Singstimme, mit der er besonders bei „Komarowskijs Lamento“ zu beindrucken weiß.
Komplettiert wird die Hauptcast mit Bettina Meske und Kevin Tarte als Tonias Eltern, Nicolai Schwab als Janko und Florian Soyka als Liberius. Unbedingt erwähnt werden sollten auch die Kinderdarsteller, die in den Rollen der jungen Lara/Tochter Katharina und des jungen Jurij/Sohn Sascha das Publikum begeisterten.
Doch „Doktor Schiwago“ ist auch ein Chormusical. Lieder wie „Schwarz-weiß“, „Blut auf dem Schnee“, das Finale des ersten Aktes und vor allem das Finale an Jurijs Grab sind allesamt beeindruckende Ensembleszenen. Und so ist es auch gerade diese finale Begräbnisszene, in der die dramaturgisch pointierte Inszenierungsarbeit von Ulrich Wiggers und seinem Team seine volle emotionale Wirkung entfaltet. Während sie in der Reprise von „Blut auf dem Schnee“ von „Freiheit für Jedermann“ singen, verwandeln die Darsteller selbst die metallenen Teile der Bühnenschrägen innerhalb kurzer Zeit in Grabsteine und alle Beteiligten stehen, gleichsam als Schatten der Vergangenheit und der Zukunft, an diesen Gräbern. So sind Lara und ihre Tochter Katharina zwar – so sagt es auch der Text – allein an Juriijs offenem Grab und doch sind alle bei ihnen, die sie und Jurij in ihrem Leben begleitet haben. Dieser erscheint am Ende selbst, hoch über allen anderen in gleißendem Licht und ist so am Ende eben doch immer noch bei ihnen. Und während die Glocke schlägt, erlöscht gleichsam im Takt auf der Bühne Stück für Stück das Licht …
und damit endet ein hochkarätiger und hochemotionaler Musicalabend, der „Doktor Schiwago“ wohl endgültig einen festen Platz in der deutschen Musicalwelt erobern lässt. Und das völlig zu Recht, denn die Verbindung aus der ewig jungen Geschichte von Liebe und Krieg und der wunderschönen Musik von Lucy Simon hat es verdient, immer wieder und immer neu gespielt zu werden.
Wenn es etwas an dieser Inszenierung des Tecklenburger „Doktor Schiwago“ zu kritisieren gibt, dann die Tatsache, dass die Zeitensprünge an keiner Stelle kenntlich gemacht werden, so wie dies z.B. bei „Les Misérables“ getan wird. Das macht es für Zuschauer, die mit der Geschichte von Boris Pasternak (ob als Buch oder Film) nicht vertraut sind, möglicherweise an einigen Stellen unnötig schwer. Aber das ist Jammern auf hohem Niveau.
„Doktor Schiwago“ wird noch bis zum 14. September in Tecklenburg gespielt. Wer die Gelegenheit hat, sollte sich diese Inszenierung auf keinem Fall entgehen lassen.
Weiterführende Informationen /Links:
Premiere: 26.07.2019
Letzte Vorstellung: 14.09.2019
Buch: Michael Weller
Musik: Lucy Simon
Regie: Ulrich Wiggers
Kostüme: Karin Alberti
Choreographie: Zoltan Fekete
Bühnenbild: Jens Janke
Maske: Stefan Becks / Susanne Bechtloff
Musikalische Leitung: Tjaard Kirsch
Jurij Andréitsch Schiwago – Arzt und Dichter – Jan Ammann
Larissa Guichard (Lara) – Milica Jovanovic
Viktor Komarovskij – Rechtsanwalt – Bernhard Bettermann
Pawel Antipov – genannt Pascha (Strelnikow) – Dominik Hees (ab 29.8.2019 Fabio Diso)
Antonina Gromeko – genannt Tonia – Wietske van Tongeren
Anna Iwanowna Gromeko – Tonias Mutter – Bettina Meske
Alexander Gromeko – Tonias Vater – Kevin Tarte
Janko – Nicolai Schwab
Liberius – Florian Soyka