BIG FISH – Musiktheater im Revier, Gelsenkirchen

Sei der „Held deiner Geschichte“ – wohl kaum ein Song kann die Botschaft des von John August (Buch) und Andrew Lippa (Musik und Songtexte) bunt umgesetzten Musicals, nach dem gleichnamigen Roman von Daniel Wallace besser beschreiben. Auch der Film von Tim Burton aus dem Jahre 2003 erklärt den Inhalt bereits in seinem erweiterten Titel mit „Big Fish – der Zauber, der ein Leben zur Legende macht.“

Der größte Hecht im Karpfenteich ist oft man selbst, zumindest wenn es darum geht, das eigene Erlebte wiederzugeben. So ist es nicht verwunderlich, dass genau dieses Phänomen hier umgesetzt wird. Der ehemalige Handelsreisende Edward erzählt seinem Sohn Will von Kindesbeinen an schillernde Geschichten seiner vergangenen Abenteuer und Heldentaten. Dass es diesem bereits in jungen Jahren schwerfällt, seinem Vater, den er von jeher nur als „Big Fish“, also als Großkotz wahrnimmt, dessen Erzählungen abzunehmen, ist wenig verwunderlich. Unglaublicherweise kommen darin doch reichlich Hexen, die ihm scheinbar den genauen Ablauf seines Todes vorhergesagt haben; ein Riese, vor welchem er sein ganzes Dorf gerettet haben will; ein Flug als lebende Kanonenkugel zu seiner Liebsten oder gar Fische vor, die ihm nur durch Tanzen eines bestimmten Rhythmus aus dem Fluss in die Arme springen. Als Edward der eindringlichen Bitte seines Sohnes, dessen Hochzeit nicht durch seltsame Geschichten zu ruinieren, nicht nachkommt, treibt er diesen damit aus dem Haus, hinein in ein eigenes glaubhaftes, ernstes und biederes Leben. Erst als Will Jahre später von der unheilbaren Krankheit, an der sein Vater inzwischen leidet erfährt, macht er sich auf den Weg zurück, um sich mit ihm zu versöhnen und ihn auf dessen letztem Weg zu begleiten. Bevor es jedoch so weit kommt, ecken sie immer wieder aneinander, hat Edward seine Märchenerzählerei doch keineswegs aufgegeben.

Bei Durchsuchen der väterlichen Unterlagen fällt Will ein Papier in die Hände, welches den Kauf eines Hauses in Edwards Geburtsort Ashton für eine Frau namens Jenny Hill, dessen Jugendliebe, zum Inhalt hat. Von Neugierde und nicht zuletzt Ärger über eine womöglich unehrenhafte Geschichte getrieben, begibt sich Will auf den Weg zu ihr und findet das, was er sein ganzes Leben lang vermisst hat – einen Teil Wahrheit über das Leben seines Vaters, die jedoch das Einzige ist, was nie jemand außer der daran Beteiligten je erfahren hat. Tief beeindruckt und geläutert kehrt er zu seinem Vater ans Sterbebett zurück, hilft ihm aus dem Krankenhaus zu fliehen und bringt ihn zum Fluss, damit sich dessen letzte Lebensminuten so erfüllen können, wie es die Kristallkugel der Hexe vor langer, langer Zeit vorausgesagt hat.

Näher als zu diesem Zeitpunkt sind sich die beiden Männer niemals gewesen und nun endlich erkennt Will, was sein Vater ihm mit all seinen fantastischen und überdimensionierten Erzählungen eigentlich immer sagen wollte – vollbringe Großes! „Sei der Held deiner Geschichte, wenn es geht! Sei der Sieger, der im Boxring weiter steht! Drum verlass dich nicht auf andre, bring es selber zu Papier – sei der Held deiner Geschichte glaube mir, und ganz schnell wird wieder so der Held aus dir! – Das Beste an einem Abenteuer, mein Sohn, sind die Menschen die man trifft!“

Bei der Beerdigung schließlich trifft Will auf einige Weggefährten seines Vaters, die er aus dessen vermeintlichen Lügenmärchen kennt und stellt fest, dass diese bei näherem Hinsehen zwar anders und auf den ersten Blick vielleicht angsteinflößend sind oder waren, aber dennoch vieles an seinen Geschichten der Wahrheit entsprach und nur ein wenig „vergrößert“ wurde – wie der geangelte Fisch, der mit jeder Erzählung buchstäblich an Größe gewinnt. So schließt sich am Ende auch der Kreis, den die Autoren des Musicals erzählen, indem der Botschaft gebende Song, der zu Beginn der Reise zwischen Vater Edward und Sohn Will stand, nun den Weg von Vater Will und dessen Sohn begleitet.

Mit der Besetzung des Benjamin Oeser in die Rolle des Vaters Edward gelingt den Verantwortlichen ein Geniestreich. Oeser begeistert sowohl gesang- wie schauspielerisch von der ersten Minute und trägt das Stück glanzvoll bis zum Ende. Seine schnellen Wechsel von jung zu alt, steht er doch fast ununterbrochen auf der Bühne, gelingen harmonisch und überzeugend und man nimmt ihm jede einzelne Minute seines Spiels gänzlich ab.

Dennis Hupka formt den von den vermeintlichen Lügengeschichten genervten, biederen und eher pragmatisch veranlagten Sohn souverän und glaubhaft. In vielen Szenen steht er als Zuschauer einfach nur neben dem primären Ereignissen und schafft es dennoch sichtbar gedanklich voll im Geschehen zu bleiben. Der späteren Krankenhaussequenz verleiht sein authentisches und emotionales Spiel die nötige Tiefe und lässt kaum ein Auge im Zuschauerraum trocken auf das nahende Finale blicken.

Theresa Christahl (Sandra) und Anke Sieloff (Hexe/Jenny Hill) spielen ihre jungen wie alten Figuren schwungvoll und überzeugend und auch Sina Jacka (Josephine) begeistert als ruhender Pol an Wills Seite die Besucher. Dem zynischen Zirkusdirektors Amos haucht Rüdiger Frank, ein in schon vielen Figuren am Theater glänzender Darsteller, gekonnt Leben ein und formt seine Rolle egozentrisch und liebevoll zu etwas ganz Besonderem. Den schweißtreibendsten Job verrichtet Oliver Aigner, der in einer dicken überdimensionalen Marionetten-Hülle dem Riesen Karl ein liebenswürdiges Wesen verleiht. An diesem Abend schlüpft Franz Aigner in die Rolle des jungen Will und kann damit sein Bühnentalent nachhaltig unter Beweis stellen.

Die Band unter der Leitung von Heribert Feckler begleitet die Darsteller trotz der anfänglichen Tonprobleme gewohnt brillant, diesmal von hinter der Bühne aus – der Orchestergraben wird szenenunterstützend mit bespielt. Das Bühnenbild (Sam Madwar) zeigt sich einfach aber dennoch stilgebend und wirkt durch die unaufdringlich und passend eingefügten Projektionen ebenso in die Tiefe. Die Erzählungen werden bildlich durch simple Holzquader gekennzeichnet, wohingegen die Gegenwart durch normale Alltagsgegenstände dargestellt wird. Die Kostüme sind detailverliebt, bunt und durchdacht und unterstreichen die durch die Erzählungen farbenfrohe Story zusätzlich lebhaft.

Dem Musiktheater im Revier gelingt unter der Regie von Andreas Gergen in Kooperation mit der Theaterakademie August Everding und der Hochschule für Musik und Theater München sowie in Verbindung mit der temporeichen und schwungvollen Choreografie (Danny Costello) eine mitreißende, frische und eingehende Inszenierung, die gekonnt den schmalen Grat zwischen Lügen und Wahrheit, Trauer und Liebe sowie Respekt und Bewunderung überbrückt. Ein alles in allem stimmiges Musical, mit dem vielleicht so Mancher schmunzelnd Parallelen in sein eigenes Leben zu ziehen vermag.

„Big Fish“ kann man bis zum 29. Juni 2019 an noch wenigen Terminen im Gelsenkirchener Theater sehen – Eintrittskarten können über die Homepage des Theaters www.musiktheater-im-Revier.de oder an der Abendkasse erworben werden.

Musiktheater im Revier
Dennis Hupka

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(Fotos: 1. (c) Astrid Mohren / 2. – 7. (c) Karl Forster)


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