“Next to normal” am Theater Magdeburg

Dass Musicals nicht immer nur seichte Stoffe zum Inhalt haben müssen, bei denen am Schluss ein Happy End steht, sondern dass sich dieses musikalische Genre durchaus auch gesellschaftlich sensiblen Themen widmet, ist zwar kein Geheimnis, aber einem Gutteil des potentiellen Publikums noch immer nicht wirklich bewusst. Ein solches Stück bringt jetzt das Theater Magdeburg auf die Bühne: „Next to normal (Fast normal)“ erlebte am 1. Oktober seine Premiere.

©Kerstin Schomburg

Für die Umsetzung hat das Team unter der seit dieser Spielzeit neuen künstlerischen Leitung eine namhafte Darstellerriege gecastet: Carin Filipčić, Mathias Edenborn, Lukas Witzel, Karen Müller, Raphael Groß und Lutz Standop erzählen, singen und spielen in Magdeburg unter der Regie von Tobias Ribitzki und unter der musikalischen Leitung von Nathan Bas die aufwühlende Geschichte der Familie Goodman. Die Geschichte einer Familie, die den sehr frühen Tod ihres achtmonatigen Sohnes Gabriel verkraften muss, ganze 16 Jahre lang versucht, diesen Schicksalsschlag zu verarbeiten – oder eben auch nicht. Während Mutter Diana an der Tragödie zerbricht, in ihrer eigenen Welt aus (manischen) Depressionen und einer bipolaren Störung lebt und auch so viele Jahre nach seinem Tod ihren Sohn immer noch sieht, mit ihm spricht und er als fast erwachsener Mann quasi ständig in ihrem Leben präsent ist, übt sich Vater Dan in Verdrängung. Er lässt seine Trauer nicht zu, hat sie tief in sich vergraben und versucht beinahe verzweifelt, sein Kartenhaus der heilen Familie aufrecht zu erhalten und seine Frau in ein „normales“ Leben zurück zu führen. Denn schließlich ist da noch Tochter Nathalie, die nach Gabriels Tod geboren und in diesem familiären Spannungsfeld aufgewachsen ist. Sie rebelliert gegen ihre Familie, sieht sie sich doch selbst in ständiger Konkurrenz zu ihrem toten Bruder um die Liebe ihrer Eltern. Weil sie sich als die Unterlegene in diesem Kampf fühlt, kann sie keine Liebe zulassen, auch wenn sie ihr – wie durch ihren Freund Henry – quasi vor die Füße geworfen wird.

©Kerstin Schomburg

Regisseur Tobias Ribitzki hat sich dazu entschlossen, den Fokus auf die Personen zu legen und das Bühnenbild auf ein Mindestmaß zu reduzieren. Ein Tisch, drei, manchmal vier Stühle, zwei Wandschränke und eine einsame Glühlampe, mehr sieht man nicht vom Zuhause. Trostlos wirkt es, gleichsam wie ein Spiegel des Innenlebens der Familie. Nur ab und zu wird diese Tristesse aufgesprengt. Wenn Diana sich beim Lied „Mir fehln die Berge“ von ihren Psychopharmaka lossagt, regnet bunter Flitter aus den Pillendosen und von der Decke, und während nach ihrer Elektroschockbehandlung im Gespräch mit ihrem Ehemann die Erinnerungen langsam wieder aus ihrem Unterbewusstsein auftauchen, ist da plötzlich statt des ständigen Dunkels ein Vorhang, der an Urlaub erinnert.

Einen Gegensatz zur farblosen Bühne sind die Kostüme der Darsteller:innen. Jeder und jedem von ihnen ist ein klares Farbschema zugeordnet: Mutter Diana (Carin Filipčić) trägt rot, als Zeichen der Liebe (zu ihrem toten Sohn), aber auch der Leidenschaft und der Wut. Vater Dan (Mathias Edenborn) als derjenige, der ständig versucht, die Disharmonien in seiner Familie auszugleichen, erscheint in violett. Tochter Nathalies (Karen Müller) blaue Kleidung zeugt von Sehnsucht nach Anerkennung durch die Mutter und einem harmonischen Familienleben, aber gleichzeitig auch von der Distanz, die sie zu beidem aufgebaut hat. Ihr Freund Henry (Raphael Groß) ist in grün gekleidet, was Zeichen für seine Hoffnung und Beharrlichkeit im Werben um Nathalies Vertrauen und Liebe ist, zugleich aber auch seine Liebe zur Natur repräsentiert. Gabriel (Lukas Witzel), der tote Sohn und Bruder, trägt geisterhaftes Weiß. Einzig Lutz Standop in seiner Arzt-Doppelrolle trägt Arztkittel und Erdtöne, was deutlich macht, dass er außerhalb der Familie und deren Geschichte steht.

©Kerstin Schomburg

Wie das Bühnenbild, so ist auch die schauspielerische Aktion der Inszenierung minimalisiert, der Fokus auf die Musikalität gelegt. Ein Großteil der Handlung findet am Tisch statt – vom Frühstück über den Selbstmordversuch Dianas bis hin zur Therapiesitzung mit dem Arzt. Und dann ist da noch der einzeln stehende Stuhl, nahezu außerhalb des Lichtkegels der Glühlampe, auf dem vor allem Vater Dan immer wieder zu finden ist. Ab und an findet man Nathalie und Henry am Klavier, das von der Seitenbühne eingeschoben wird. Für Dianas Elektroschocktherapie erscheint ein mit kaltem weißen Licht ausgeleuchteter Kubus in der Bühnenmitte, der später zur Tanzfläche eines Clubs wird, in dem Nathalie mittels von ihrer Mutter gestohlener Medikamente versucht, ihrem Leben wenigstens für einen berauschten Moment zu entfliehen.

Umso intensiver sind bei dieser reduzierten Personenführung diejenigen Momente, wenn bei den Personen die Emotionen hervorbrechen. Vor allem Carin Filipčić berührt mit ihren Interpretationen von Dianas Gefühlszustand zutiefst, zeigt sie doch in den gut zwei Stunden Spielzeit die ganze Bandbreite der menschlichen Seele. Gepaart mit einer hervorragenden gesanglichen Leistung ist es vor allem sie, die diesen Abend trägt.

©Kerstin Schomburg

Nicht ganz so überzeugen kann Mathias Edenborn als Vater Dan. Seine Rolle wirkt oft recht eindimensional und emotionslos. Das ist natürlich zu einem gewissen Teil so gewollt, schließlich ist sein Hauptbedürfnis die Verdrängung. Jedoch wäre an der einen oder anderen Stelle mehr Emotion und Tiefe wünschenswert und sogar nötig gewesen. So verpufft der Schlüsselmoment des Stücks, wenn Diana die Familie verlässt, Dan allein zurückbleibt und plötzlich für einen kurzen Moment ebenfalls seinen toten Sohn sehen kann, leider etwas. Dies kann nicht den Darstellern angekreidet werden, vielmehr wurden hier dramaturgische Möglichkeiten schlicht ungenutzt gelassen.

Lukas Witzel drückt der Figur des Gabe sowohl stimmlich als auch schauspielerisch seinen Stempel auf. Obwohl auch seine spielerischen Aktionen sehr minimiert sind, beeindruckt er allein mit seiner Bühnenpräsenz, seinen Bewegungen, seinem Habitus und natürlich mit seiner Stimme.

Ein ungleiches Paar scheinen Nathalie und Henry zu sein. Karen Müller verkörpert die scheinbar ungeliebte Tochter vor allem wütend, trotzig, voll Schmerz über die Abweisung ihrer Mutter und die Gleichgültigkeit des Vaters. Wenn am Ende ihre Mutter die Familie verlässt, scheint dies für sie gleichsam ein Befreiungsschlag zu sein, obwohl die Mutter doch eigentlich der wichtigste Mensch im Leben einer Tochter sein sollte. Zu diesem wichtigsten Menschen wird im Laufe des Stückes Henry, der sich trotz aller Abweisung durch Nathalie und die schwierige Konstellation ihrer Familie nicht von der Liebe zu ihr abbringen lässt. Raphael Groß spielt ihn zurückhaltend, beinahe schüchtern, immer mit den Händen in seiner Unsicherheit den Jackensaum knetend und doch entschlossen und willensstark im Versuch, Nathalie aus ihrer Verzweiflung zu holen und ihr seine Liebe zu schenken.

©Kerstin Schomburg

Komplettiert wird das Ensemble von Lutz Standop, der bereits im Sommer als Giles in der Magdeburger „Rebecca“-Inszenierung zu überzeugen wusste. In „Fast normal“ verkörpert er den Psychiater Dr. Madden, der scheinbar nur von außen die Familie Goodman beobachtet, sie aber mit seiner Therapieempfehlung der Elektroschocktherapie doch nachhaltig beeinflusst, ist es doch diese Therapie, deren Ergebnisse schlussendlich zum Weggang Dianas führen.

Es ist kein Happy End im klassischen Sinn, das die Zuschauer am Ende des Stückes erwartet. Und doch ist es ein Hoffnungsschimmer, wenn das Ensemble singt „Es gibt ein Licht!“. Eine Hoffnung, die gerade mit Blick auf das Sujet des Musicals so wichtig ist.

Trotz dieses nicht ganz einfachen und im Musical schonungslos dargestellten Sujets ist die Magdeburger Inszenierung vor allem in musikalischer und gesanglicher Hinsicht ein Genuss, dank der hochkarätigen Cast und der Magdeburgischen Philharmonie unter Leitung von Nathan Bas.

Bis zum 4. Februar 2023 gibt es noch neun Vorstellungen zu erleben. Tickets unter https://www.theater-magdeburg.de

 

 

 

Teilen via:

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert